Die Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten waren ausgesprochen schlecht in den vergangenen zehn Jahren. Ideologische und geostrategische Auseinandersetzungen bestimmten das Verhalten der beiden Regionalmächte, und es hatte lange keine Anzeichen einer Annäherung gegeben. Nun allerdings hat sich das politischen Umfeld verändert, und die Ähnlichkeit ihrer Interessen überwiegen die Differenzen.
Problematisch wurde die Beziehung mit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings im Jahr 2010/11. Von Tunesien aus rollten mehrere Wellen des Protests durch die arabische Welt, brachten eine Reihe von Regierungen zu Fall und provozieren bis heute immer neue Aufstände, zuletzt in Algerien und dem Sudan. Auch wenn die Initiative zunächst hauptsächlich von jungen, urban geprägten Menschen in den großen Metropolen ausging, wurde bald auch die Islamisten zu einer bedeutenden Kraft. Dabei hatten sie den großen Vorteil, im Gegensatz zu den meist unorganisierten Protestlern der ersten Stunde, dass sie bereits über Jahrzehnte Strukturen aufbauen konnten und über die notwendige Erfahrung verfügten, ihre nummerische Kraft auch in politischen Einfluss umzumünzen. So gelangten in Ägypten zunächst auch die Muslimbrüder unter Mohammed Mursi an die Macht, bis das Militär 2013 schließlich putschte und die Muslimbrüder aus dem politischen Leben Ägyptens verbannte. Für Erdogan, der ideologisch und machtpolitisch eng mit den Muslimbrüdern zusammenarbeitet, war dies ein schwerer Rückschlag. Das Verhältnis der beiden Länder war nun von Feindseligkeiten bestimmt.
Zu diesen weltanschaulichen Gegensätzen gesellten sich auch geostrategische Konflikte. So versucht Ankara seit geraumer Zeit, seinen Einfluss im kriegsgeplagten Libyen auszubauen, indem es die international anerkannte Regierung in Tripolis militärisch und finanziell unterstützt. Auch in der Frage um den Umgang mit dem Emirat Qatar gibt es große Meinungsverschiedenheiten. So haben die Verbündeten Ägyptens, allen voran Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, 2017 eine Blockade über das Land verhängt. Die Türkei ihrerseits unterstützte den Staat auch weiterhin, welcher, insbesondere durch den Fernsehsender al-Jazeera, ebenfalls für die Muslimbrüder propagiert.
Auch im Mittelmeer erschwerten unterschiedliche Interessen ein Entgegenkommen, dies betraf insbesondere die Ausbeutung von Erdgasfeldern im östlichen Mittelmeerraum, wo die Türkei aktiv versucht, ihre Position auszubauen. Dies geschieht auch immer stärker durch den Einsatz militärischer Mittel, eine Eskalation konnte bisher jedoch vermieden werden. Jedoch haben die anderen Anrainerstaaten begonnen, Bündnisse zu bilden und nach Möglichkeiten zu suchen, die türkischen Ansprüche zu unterminieren. Dies betrifft Griechenland, Zypern und Israel, und zwischenzeitlich war auch Ägypten ein Kandidat für eine gemeinsame Kooperation. In diesem Punkt dürften sich die Kräfteverhältnisse zukünftig verlagern.
Warum also kommt es nun zu dieser Verständigung der beiden Länder?
Der Nahe Osten befindet sich momentan in einer Phase multipler Verständigungen. Israel und eine Reihe arabischer Staaten haben durch das Abraham-Abkommen ihre Beziehungen ein Stück weit normalisiert, die Türkei sucht nach einer Verständigung mit mehreren arabischen Staaten, der Iran und Saudi-Arabien sprechen plötzlich wieder miteinander, auch die Blockade von Qatar wurde abgebrochen. Unter diesen Vorzeichen ist die ägyptisch-türkische Verständigung nur ein Aspekt dieser Entwicklung, an dessen Ende wohl eine neue geostrategische Gesamtlage im Nahen Osten herrschen wird.
Welche Chancen versprechen sich die beiden Staaten von dieser Entwicklung?
Erdogan sieht sich momentan in einer schwierigen Position. Sein Vorhaben, als neuer Anführer der sunnitischen Muslime eine bedeutendere Rolle einzunehmen in der Politik der arabischen Welt, ist vorerst gescheitert. Er begibt sich damit auch in direkte Konkurrenz mit dem saudischen Königshaus, welches als Wächter der heiligen Stätten des Islams, Mekka und Medina, diese Rolle für sich selbst beansprucht. Die momentanen Unruhen in Jerusalem zeigen, wie kompliziert dieses Spiel für den türkischen Präsidenten ist, muss er sich doch eindeutig auf Seiten der Palästinenser positionieren, während die meisten arabischen Staatsoberhäupter auffallend ruhig bleiben.
Die neue Verständigung mit Ägypten stellt daher eine große Schlappe dar für Erdogan. Immerhin war die Regierung as-Sisis, nach dem Putsch an den Muslimbrüdern, so etwas wie der Erzfeind der Türkei. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Türkei keinen großen Nutzen daraus ziehen könnte. Immerhin würde eine Verständigung der beiden Länder in den Fragen zu Erdgasgewinnung und militärischer Präsenz im Mittelmeer einen großen Vorteil. Die Türkei könnte ihre Macht in Libyen ausbauen und weiter östlich seine Rivalen Griechenland, Zypern und Israel ausspielen. Um eine hegemoniale Stellung im östlichen Mittelmeer zu erlangen, was die Türkei erreichen möchte, braucht sie zumindest einen Verbündeten in der Region, welcher in Kairo sitzen könnte.
Ägypten kann nämlich ebenfalls von dieser neuen Konstellation profitieren. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwäche des Landes, welche durch das Unglück im Suezkanal noch einmal offensichtlich wurde, und der innenpolitischen Konflikte mit den Muslimbrüdern und Salafisten ist das einstige Zentrum der islamischen Welt zu einem zweitrangigen Spieler geworden. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, beide hochgerüstet mit den Milliarden aus dem Ölgeschäft, geben den Ton an. Jedoch haben auch sie in letzter Zeit Anpassungen vornehmen müssen. Die fehlende Unterstützung durch die USA seit Bidens Amtsantritt, die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie und die militärischen Niederlagen, allen voran in Syrien und zuletzt im Jemen, haben ihre Macht empfindlich geschwächt. Auch die diplomatische Versöhnung mit Israel dürfte heute, angesichts der Eskalation in Jerusalem, von vielen Muslimen mit Argwohn beobachtet werden.
Und daher verbessern auch diese Staaten ihr Verhältnis zur Türkei. Derzeit findet also etwas wie ein Wettrennen der Versöhnungen statt, und der Staat, welcher die besten Beziehungen zu den meisten Ländern hat, könnte am Ende der Gewinner sein. Sollte es Ägypten gelingen, engere Beziehungen zur Türkei zu unterhalten als die Golfmonarchien, könnte es seine Position gegenüber diesen ausbauen und wieder eine wichtige Stellung einnehmen in der Region.
Verlierer dieser Entwicklung sind auf jeden Fall Israel und Griechenland. Beide haben eine Vielzahl an Konflikten mit der Türkei und versuchen permanent, ihren Einfluss zu begrenzen. Auch in diesem Fall wird die Situation in Jerusalem eine Kraftprobe darstellen. Während die Türkei sich eindeutig auf Seiten der Palästinenser positioniert, wird Ägypten dies in einer solchen Klarheit wohl kaum öffentlich machen. Jerusalem ist wieder einmal der Laststein der Völker, wie es in Sacharja heißt, und hier werden auch der allgemeinen Stimmung der Versöhnung ihre Grenzen aufgezeigt.