Die verpasste Chance der Araber

Die politische Landkarte des Nahen Ostens befindet sich seit einem Jahrzehnt in permanentem Wandel. Die einen Länder intervenieren hier, dort zerfällt der nächste Staat. Auffällig ist dabei, dass es insbesondere arabische Staaten sind, welche zerfallen, während es zugleich nicht-arabische Länder sind, welche diese Schwäche für sich nutzen und ihre Macht erweitern. Wie konnte diese Konstellation entstehen, und wozu wird sie dereinst führen?

Der lange Abschied von der Weltbühne

Als im Jahr 661 n. Chr. das erste Kalifat errichtet wurde, unter der Herrschaft der Umayyaden, befand sich das Volk der Araber inmitten einer großen Bewegung der Expansion. Die Religion des Islam war erst einige Jahrzehnte alt, Mohammed selbst seit 30 Jahren tot, und die Reiterheere dieser neuen Macht setzten dazu an, eines der größten Reiche der Geschichte zu errichten. Zu Zeiten seiner größten Ausdehnung reichte es von den Atlantikküsten Portugals und Marokkos über die gesamte Arabische Halbinsel bis zu den Gipfeln Zentralasien und den Ufern des Indus. Über mehrere Jahrhunderte hinweg stellten die verschiedenen Dynastien und Kalifate innerhalb dieser Region das Zentrum des Weltgeschehens dar. Spirituell, wirtschaftlich, wissenschaftlich und auch künstlerisch lag hier das Epizentrum allen Seins. Jedoch waren auch die Kalifate nicht gefeit vor dem ewigen Kreislauf aus Aufstieg und Untergang, sodass sie irgendwann begannen, an Einfluss zu verlieren. Innere Zerwürfnisse und die von Ibn Khaldún meisterhaft erklärte Dekadenz der Führungseliten schwächten sie in ihrem Inneren, die apokalyptischen Reiterhorden der Mongolen zerstörten sie von außen. Und während sich die arabischen Kalifate nie von diesem Schlag erholen konnten, erreichten die Osmanen, welche fast ausgelöscht wurden, einen bemerkenswerten Aufstieg. Spätestens mit der Eroberung von Konstantinopel 1453 konnten sie die Führungsrolle für sich geltend machen innerhalb der muslimischen Welt, und da fast zeitgleich die Perser unter den Safawiden zu neuem Selbstbewusstsein fanden und die Spanier die iberische Halbinsel in christliche Hände bringen konnten, was sich als sehr viel bedeutender herausstellen sollte als die kleinen Kreuzfahrerstaaten, war die Überlegenheit der Araber ein Relikt aus der Vergangenheit.

Die lange Zeit des Wartens

Nun war die Zeit der Türken angebrochen. Von Tunis bis nach Basra erstreckte sich ihr Reich zu ihrer größten Ausdehnung, sie kontrollierten Jerusalem, Mekka und Medina, behielten das „Zweite Rom“ als Hauptstadt und bedrohten den Kern Europas mit ihren Angriffen auf Wien. Die europäischen Nationen hingegen orientierten sich auf ihre Kolonien auf allen Kontinenten, über fünf Jahrhunderte erweiterten sie ihre Macht in allen Bereichen und griffen bald auch in den Nahen Osten ein. Als Spielball zwischen Europäern und Türken mussten die Araber ihr Dasein fristen, und verbündeten sie sich mit einer Seite, fiel ihnen diese in den Rücken und behandelte sie ebenfalls als Kolonie. Der Untergang des „Kranken Mann am Bosporus“ verschaffte den arabischen Gesellschaften jedoch keinen großen Vorteil, schließlich waren Großbritannien und Frankreich nach wie vor vorhanden und, als neuen Tiefschlag für Muslime, errichteten die ausgewanderten Juden aus Europa Israel. Zwar erlangten auch arabische Nationen nach und nach die Unabhängigkeit, entscheidend blieben aber Washington und Moskau, denn auch die Politik des Nahen Ostens war geprägt vom Kalten Krieg. Nach dessen Ende schließlich war die USA die Supermacht, welche alles beherrschte und die keinen adäquaten Kontrahenten mehr zu fürchten hatte.

Die Phase des Umbruchs

Doch mit dieser großen Macht einher ging eine Hybris, welche Washington befallen hat und ihren Tribut eintreiben wollte. Nachdem die USA durch die Anschläge vom 11.09.2001 einen schweren psychologischen Schaden nahmen, reagierten sie hysterisch und mit Größenwahn. Afghanistan wurde angegriffen und sollte als Demokratie neu erbaut werden, der Irak wurde angegriffen mit einer Rechtfertigung aus lauter Lügen, und sollte ebenso erbaut werden, dieses mal sogar als „Leuchtturm der Freiheit“ und als Vorbild für die ganze Region. Dass diese Pläne niemals eine realistische Chance hatten, wirklich umgesetzt zu werden, hätte den Strategen Washingtons eigentlich bewusst sein müssen. So jedoch verspielten sie ihre starke Position, und da sie zeitgleich auf den Aufstieg Chinas reagieren müssen, ziehen sie sich seit Obama recht schnell aus der Region zurück und und möchten heute wohl am liebsten nichts mehr hören von Nahost, wie der gegenwärtige Konflikt in Israel beweist.

Die neue Chance der Araber

Seit die arabische Welt 2011 von einer Welle aus Prostesten, Aufständen und später Kriegen überrollt wurde, ist sie auf der Suche nach einer neuer Rolle in der Welt des 21. Jahrhunderts. Die alten Regime sind nicht mehr in der Lage, auf die Herausforderungen dieser Zeit in adäquater Weise einzugehen und wirken mehr und mehr wie eine Relikt des Kalten Krieges. Aber wie jede Umbruchphase verläuft auch diese sehr brutal, mit neuen Militärregimes und vom Krieg zerstörten Ländern als Ergebnis. Dass nach über einem Jahrzehnt des globalen Antiterrorkampfes Dschihadisten des IS und anderen Fraktionen in der Lage waren, ganze Staaten von alleine zu errichten, zeugt von der Schwere der Verwerfungen in der Region. Allerdings birgt diese Phase auch die Chance, sich von den vielen Mächten, welche seit Jahrhunderten die Politik des Nahen Ostens dominieren, loszusagen. Leider ist derzeit nicht eine arabische Nation in Sicht, welche diese Aufgabe übernehmen könnte, und es bleibt fraglich, ob sich das in absehbarer Zeit noch ändern wird. Israel, Iran und die Türkei sind heute die aktiven Spieler der Region, mit Russland, China und natürlich noch den USA als auswärtige Einflussnehmer. Verpassen die Araber etwa gerade eine Chance, welche seit Jahrhunderten nicht da gewesen ist, und wohl auch Jahrhunderte nicht mehr erscheint?

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