Diese Woche war der erste Jahrestag der verheerenden Explosion, welche Beirut im August 2020 großflächig zerstört hat. Die daran anschließenden Demonstrationen haben Schätzungen zufolge bis zu 1,6 Millionen Menschen auf die Straße bewegt, etwa ein Viertel der Bevölkerung des Landes. Sonderlich gewalttätig wurden sie glücklicherweise nicht, die Trauer, der Schmerz und auch Resignation überwiegen.
Als die Musik begann, war die Treppe bereits vollständig bedeckt von Zuhörern. Unter dem abendlichen Himmel Beiruts, inmitten der Kerzen, welche auf dem Boden standen und ein wenig Licht abgaben, lauschte das Publikum den Klängen der Musik, die an all die Opfer gedenken sollte, welche diese Stadt vor einem Jahr zu beklagen hatte. Dies war am Dienstag, den 03. August, am Abend vor der großen Demonstration. Damit war der Auftakt gesetzt für die nächsten Tage, die für das Land sehr emotional waren.

Am Mittwoch strömten die Menschenmassen Richtung Hafen. An drei verschiedenen Punkten, welche vom Bankenviertel bis nach Karantina reichten, trafen sich die Demonstranten, und als um 06:08 die Schweigeminute eingeläutet wurde, war die gesamte Küstenstraße voll mit Menschen. Es war vermutlich die größte Ansammlung, welche dieses Land seit langer Zeit gesehen hat.
Die Explosion vor einem Jahr zerstörte viele Gebäude der Stadt, insbesondere in den Vierteln Gemayzeh, Mar Mikhael und Karantina waren die Schäden enorm. 300.000 Menschen verloren ihre Wohnung, es gab tausende Verletzte, über 200 Menschen starben. Doch die Explosion war noch mehr als das. Für das kleine Land, welches mit einer mittlerweile kaum noch zu überblickenden Anzahl an Krisen gleichzeitig zu kämpfen hat, bedeutete diese Katastrophe auch einen psychologischen Wendepunkt. Sind die Libanesen, sich dabei auf ihr phönizisches Erbe berufend, daran gewöhnt, Rückschläge hinzunehmen und alles wieder aufbauen zu müssen, scheinen viele ihre Hoffnungen für das Land endgültig aufgegeben zu haben.

Nachdem im Oktober 2019 die Revolution begonnen hat und die Landeswährung vom Dollar entkoppelt wurde, zumindest auf dem Schwarzmarkt, hatten viele für einen politischen Umschwung gekämpft. Die alten Strukturen waren jedoch zu stark dafür, die Wirtschaft und der Finanzsektor befanden sich nun in einer Abwärtsspirale, die Coronakrise hat alles noch einmal deutlich verschlimmert. Als dann auch noch die Explosion die Hauptstadt traf, war für viele der Punkt erreicht, sich um eine Auswanderung zu kümmern. Dies betrifft insbesondere die gebildeten, gut vernetzten und polyglotten jungen Menschen aus der Mittelschicht, welche über gute Chancen verfügen, in anderen Ländern der Welt ein neues Zuhause zu finden.
Nachdem die Schweigeminute beendet war, wurde umgehend der Ruf nach Revolution, der thaura, wieder laut. Die Gruppe bewegte sich zum Märtyrerplatz, in der Nähe des Regierungsviertels. Hier begannen die ersten Kämpfe, als Protestanten Steine und verschiedene Brennstoffe auf die umliegenden Gebäude warfen und das Militär mit Tränengas antwortete. Allzu heftig waren diese Kämpfe jedoch nicht. Am Ende standen 81 Verletzte, 10 davon mussten ins Krankenhaus gebracht werden. Es waren die Trauer und Resignation, welche an diesem Abend die Wut noch überboten haben.
Am Jahrestag der Explosion kam es auch wieder zu Auseinandersetzungen mit Israel. Nachdem aus dem südlichen Libanon zwei Raketen auf das Staatsgebiet Israels geschossen wurden, antworteten diese mit den ersten Bombardierungen im Libanon seit Jahren. Am Tag darauf hat die Hizbollah wiederum mit Raketen reagiert, die Rhetorik ist schärfer geworden.
So finden sich die Libanesen, nach einer Minute des Gedenkens und der Trauer, unversehens wieder in einer Welt voll Krisen, Agonie und immerwährender Kriegsgefahr.